360 Kids und ein Lehrer

Die Gunzenhäuser Volksschule vor 200 Jahren

Hier im Doppelhaus in der Kirchenstraße 17 und 19 befanden sich Räume der Volksschule. Foto: Falk

In den heutigen Grundschulen bilden 20 Kinder oder ein paar mehr eine Klasse. Sie haben große und gut ausgestattete Unterrichtsräume, es fehlt ihnen an nichts, sofern sie eine Lehrerin oder einen Lehrer haben, mit dem sie klar kommen. Die Lehrergewerkschaft möchte sogar noch kleinere Klassen. Vor rund 200 Jahren wären dem Gunzenhäuser Lehrer Johann Jakob Büringer solche Verhältnisse als das Paradies auf Erden erschienen. Sie waren damals unverstellbar. Die Wirklichkeit sah nämlich ganz anders aus: in Gunzenhausen wurden 360 Kinder von nur einem Lehrer (und ein paar Schulgehilfen) unterrichtet.

Das Mesnerhaus war früher die Volksschule. Foto: Falk

Die Schulrealität von damals erfahren wir von Peter Khaeser, dem Bezirksschulrat des Rezatkreises (heute: Regierungsbezirk Mittelfranken). Damals, das war anfangs des 19. Jahrhunderts, genau im Jahr 1813. In Gunzenhausen gab es die Rectoratsschule“  mit zwei Lehrern, die gar keine Schüler mehr hatte, weil den Eltern andere Dinge lebenswichtiger waren als der Schulbesuch ihrer Sprößlinge.  Das Gros der Kinder besuchte die Volksschule (heute: Mesnerhaus neben der Stadtkirche) und in den Häusern der Kirchenstraße 17 und 19. Der Pfarrer und Dekan hatte die Schulaufsicht (Kreisschulrat): Dr. Heinrich Stephani. Er hatte das Schulwesen im Rezatkreis „zu ansehnlicher Leistungsfähigkeit emporgehoben“, wie Peter Khaeser in seinem Beitrag „Schule oder Rathaus?“ in „Alt-Gunzenhausen“ (Nummer 15) urteilt. Aber in Gunzenhausen sah es anders aus: „Geringerwertig als in Gunzenhausen konnte die Schule kaum anderswo sein“.  Der einzige Lehrer unterrichtete von 7 bis 10 und von 12 bis 15 Uhr, mittwochs und samstags war schulfrei, oftmals die eine Hälfte am Vormittag und die andere am Nachmittag. Wie andernorts üblich, so  hatte sich Lehrer Büringer auch in Gunzenhausen einige ältere Schüler „gedungen“, die ihm beim „Unterrichts- und Erziehungsgeschäft“ helfen sollten. Diese durften sich später „Schulgehilfen“ oder “Schulexpektanten“ nennen.

Die schulischen Verhältnisse waren selbst für damalige Verhältnisse unzureichend bis katastrophal. Das Landgericht (heute: Landratsamt)  urteilte über den  letzten „Cantor“ Andreas Wenig (gestorben 1813) , der dem „Rector“ der höheren Schule zur Seite stand: „Die Stadt war bisher so unglücklich, eine Cantor zu haben, dem das Schulwesen nicht am Herzen liegt und der aus Faulheit die Lehrstunden versäumt.“ Ganz anders war Lehrer Büringer gestrickt („Eine Zierde seines Standes“),  der bei seinem Vater Georg Wilhelm Büringer sozusagen in die Lehre gegangen war.  Jakob hatte keine höhere Schule besucht, sich aber bei seinem Vater „ein bescheidenes Wissen an Pädagogik angeeignet“.  Ein Studium oder Lehrerseminare kannte man damals noch nicht. Der „Schullehrling“ ging beim „Schulmeister“ in die Lehre wie ein anderer Bub beim Schreinermeister.  Manche konnten allerdings beim Konsistorium (heute: Schulabteilung der Regierung) eine Prüfung ablegen und danach eine Lehrerstelle antreten. Stadtpfarrer Zenker attestierte jedenfalls dem jungen Büringer, „die erforderlichen Wissenschaften rühmlichst sich erworben zu haben“. Der Unterrichtsalltag war für heutige Verhältnisse unvorstellbar: „Wenn ein Schüler an die Tafel treten sollte oder das Zimmer zu verlassen genötigt war, so musste er buchstäblich über die anderen hinweg steigen. Für die Schüler gab es am Schulhaus auch keine Abtritte (heute: Toiletten). Die Kinder beiderlei Geschlechts entleerten sich auf der Gasse hinter dem Schulhaus, wo ein ansehnlicher Misthaufen war, der „bekömmlich von den Schüler benutzt wurde“.  Der Unterrichtserfolg in Gunzenhausen beschränkte sich – so Autor  Khaeser – auf das Lesen und Schreiben, wobei die Schule eigentlich auch noch mehr vermitteln sollte, nämlich Buchstabieren, Religion- und Sittenlehre, Orthographie, Kalligraphie, Kopfrechnen und Choralsingen.

Die Raumnot war zu Anfang des 19. Jahrhunderts latent, aber ein Silberstreif zeigte sich am Horizont, als das Haus von Medizinalrat Dr. Jakob Friederich Wiedmann (das spätere Rathaus, heute Stadtmuseum) frei wurde. Nach der Vorstellung von Dr. Stephani  sollten hier sowohl die Lateinschule und drei Klassen der Volksschule samt Lehrerwohnungen ihren Platz finden.  Es gab dazu aber eine kontroverse Diskussion zwischen ihm und dem Magistrat (heute: Stadtverwaltung), aber auch den in der Stadt etablierten Lehrern. Cantor Wenig schrieb an die Schulaufsicht: „Für mich als 63jährigen, gebrechlichen Mann würde der so sehr weit entlegene Kirchgang von dem ehemaligen Rath.- und Dr. Wiedmännischem Hauß bis in die Stadtkirche von der größten Unbequemlichkeit seyn“. Andererseits ermahnte das Generalkommissariat (nachfolgend: Regierung von Mittelfranken) die Gunzenhäuser Stadträte,  sich für „widerspänstiges, eigenmächtiges und daher strafbares Handeln schriftlich zu verantworten“. Der „Municipalrat“ (heute: Stadtrat) jedoch legte eine 180-Grad-Drehung hin und erwarb das Haus für die Nutzung als Rathaus. Die Volksschule hatte das Nachsehen. Immerhin wurde mehr Platz geschaffen:  das alte Schulgebäude am Kirchplatz erhielt u.a. einen „doppelten Abtritt“ und die Zwillingshäuser in der Kirchenstraße einen Torbogen, der bis heute existiert.  In das einstige Stadtschreiberhaus konnte die Lateinschule einziehen.

WERNER FALK

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Die Beiträge kommen vom Herausgeber und von Gastautoren. Im Mittelpunkt stehen kommunalpolitische und gesellschaftspolitische Themen. In meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Vereins für Heimatkunde Gunzenhausen ist es mir wichtig, historische Beiträge zu veröffentlichen.

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