Wilhelm Löhe und Polsingen

Pfarrer Siegfried J. Schwemmer befasst sich mit der Rolle des Diakonie-Gründers

Von den Anfängen der Diakonie in Polsingen berichtet Siegfried J. Schwemmer

Wilhelm Löhe (1808-1872) war der Gründer der evangelischen Diakonissenanstalt Neuendettelsau, deren erste Filiale 1865 in Polsingen entstanden ist. Es war die Intention des Gründers, der seelischen Not der Menschen auf dem Land zu begegnen. Polsingen ist auch heute, 147 Jahre danach, nach etlichen organisatorischen Veränderungen,  ein Zentrum der kirchlichen Behindertenarbeit.

Pfarrer Siegfried J. Schwemmer war lange Zeit bei der Wilhelm-Löhe-Kulturstiftung Neuendettelsau tätig. Er hat bereits 2003 das diakonische Wirken in Polsingen unter die Lupe genommen. „Zur Linderung des menschlichen Elends und zu Mehrung von Gottes Reich“ nennt sich der Titel seines Buches (ISBN 978-3-9809431-5-4), das eine breite Leserschaft verdient. Der Autor geht vor allem auf das Verhältnis von Vater Wilhelm und Sohn Ferdinand ein und kommt zum Ergebnis, dass es der Vater war, der immer zum  Standort Polsingen gestanden hat – auch in ganz kritischen Zeiten. Er war es, der manche Ungeschicklichkeiten des Sohnes durch seine Entschlossenheit kaschierte.

Ferdinand hat 1865 das Polsinger Gut gekauft, zu dem einst rund 700 Hektar Land gehörten. Eigentümer waren früher die Herren von Wöllwarth, dann ein Pappenheimer, der es an vier Polsinger Bauern verkaufte. Was noch übrig geblieben war, das erwarb  Ferdinand Löhe. Er hatte es eigentlich nur auf die landwirtschaftlichen Flächen abgesehen, aber der Vater drängte ihn, den ganzen Rest, also einschließlich des Schlosses, zu erwerben. Schon früh deutete sich an, dass der Sohn damit überfordert war. Die Schwierigkeiten waren zu groß und so scheiterte das „Projekt Polsingen“. Die Nachfolger befreiten nach dessen Tod 1906 das Gut von all seinen Schulden.

Vater Wilhelm Löhe war stets in alle Abläufe verstrickt, stellt Autor Schwemmer fest. Er kannte wohl auch die schlechte finanzielle Lage. Er hatte den Kauf des Schlosses entschieden mitgetragen, denn er wollte nicht, dass andere zum Zug kamen, sprich „die Gemeinde und die Gegend sittlichen Schaden nehmen könnte“.  Sein Plan war es, eine Kleinkinderschule, eine Rettungsanstalt für Knaben, eine Blödenanstalt und ein Distriktskrankenhaus einzurichten. Der Sohn agierte als „Subrektor“, der Vater traf alle Entscheidungen.

Gründer Wilhelm Löhe hatte immer die Vision, im Hahnenkamm das missionarische Werk der Glaubensboten Willibald, Wunibald und Walburga (Kloster Heidenheim) fortsetzen zu können. 1903 übernahm die Diakonissenanstalt Neuendettelsau  unter der neuen Leitung von Rektor Hermann Bezzel Schloss und Gut („Möge Polsingen im Hahnenkamm eine Leuchte werden und bleiben“). Dass sich in Polsingen später die Behindertenarbeit etabliert hat, das eher auf einen Zufall („göttliche Fügung“) zurückzuführen.

1865 startete Polsingen mit einer Kleinkinderschule, die von 18 Buben und Mädchen aus der Umgebung besucht wurde. Löhe sah die Not, denn die Kinder waren sich weitgehend allein überlassen und wurden oftmals vernachlässigt, zumal die Eltern „im Dienst des Brotes“ standen. Das Projekt ist aber gescheitert und auch der Versuch, eine „Bildungsstätte für werdende Kinderlehrerinnen“ zu schaffen. Pfarrer Löhe war folglich enttäuscht: „Die Gemeinde erkannte nicht den Segen, wenn die jungen Schafe und Lämmer  frühzeitig ihren Hirten zugeführt werden“. Wenn man so will, dann war das 1871 der Versuch einer Ganztagesschule nach heutigem Verständnis, damals war von einer „Aufbewahrungsanstalt mit angemessenem Unterricht“ die Rede. Eine „gewisse Fremdlingswirtschaft“ (also Skepsis) stellte Löhe bei seinen geistlichen Brüdern in der Nachbarschaft fest, die es an der Unterstützung für ein Rettungshaus für verwahrloste Kinder fehlen ließen. Aber auch in der Anstalt selbst war das Vorgehen Löhes nicht unumstritten. Oberin Maria Hedwig Stählin mahnte jedenfalls eine „endliche Entscheidung“ an und sprach von einem „pädagogischen Missgriff“. Die Erziehung der „vorrohten Knaben“ erwies sich für die Diakonissen als eine zu schwere Aufgabe und so wurde 1873 das Rettungshaus aufgelöst.

Wenige Jahre später, 1867, legte Wilhelm Löhe dem Bezirksamt Gunzenhausen (heute: Landratsamt) seine Pläne für ein Distriktskrankenhaus im Polsinger Schloss vor und tatsächlich gab es zwei Jahre später die behördliche Genehmigung, allerdings mit Auflagen hinsichtlich der Finanzierung. Zweimal im Jahr sollte es in den nächsten fünf Jahre eine Sammlung geben. Die Bereitschaft der Hahnenkamm-Menschen, ihr Scherflein beizutragen, hielt sich in Grenzen.  Autor Schwemmer berichtet, eine Schwester sei in Gnotzheim „fast von Haus zu Haus beschimpft worden“.  1883 folgte daher die Schließung. Das Krankenhaus entwickelte sich zu einem Pfründerhaus (heute: Altersheim), d.h. dort fanden alte, kranke und mittellose Menschen ein Obdach. Es waren auch Typen dabei,  „die schwer in Zucht zu halten sind, sich zu Hause nicht in die Ordnung fügen und arbeitsscheu sind“.  Bis zu zwölf Personen waren es 1873, die sich in ihrem „seeligen Sterben“ begleiten ließen. Die zur „Privatanstalt“ gewordene Einrichtung wollte den Einfluss des Bezirksamts nicht akzepieren.

1866 übersiedelten männliche „Blöde“ (heute: geistig behinderte Menschen) und epeleptische Kranke von Neuendettelsau  nach Polsingen.  Die Anstalt war personell ganz schlecht ausgestattet, was kein Wunder war, legte die Dienstordnung doch fest, dass der Pfleger oder die Schwester neben dem Klienten zu schlafen hatte, einen freien Tag gab es nur jeden dritten Sonntag und ohne Erlaubnis der Oberschwester durfte kein Mitarbeiter die Anstalt verlassen. Der Anstaltsarzt fehlte, aus Oettingen kam ein- bis zweimal in der Woche  der dort praktizierende Arzt Dr. Burger, der aber  als „höchst ungläubig“ und als ein „unmoralischer Mensch“  wenig Anklang fand.

Das Verhältnis von Anstalt und Kirchengemeinde Polsingen war „nicht ohne Kontroversen“.  Recht unterschiedlich war das diakonische Engagement der benachbarten Pfarrer . Unter  Rektor Friedrich Meyer  (er amtierte von 1872-91) verlor Ferdinand Löhe seine herausragende Stellung, die ihm sein Vater noch garantiert hatte. Dr. Hermann Bezzel, der weitere Nachfolger, verlangte Transparenz und mehr Kontrolle. So kam es, dass die Diakonissenanstalt Neuendettelsau 1903 alle Polsinger Einrichtungen (also auch die Landwirtschaft) samt den aufgelaufenen Schulden von Ferdinand Löhe übernahm.

Die neue Zeit brachte aber nicht unbedingt bessere Verhältnisse. Die Nationalsozialisten realisierten 1940-42 ihr Euthanasieprogramm. Auch aus Polsingen wurden 285 Menschen mit Behinderung in staatliche Heime „verlegt“, aus der Diakonieanstalt Neuendettelsau insgesamt rund 1200. Das geht aus der Dokumentation  „Warum sie sterben mussten“ von Christine-Ruth Müller und Hans-Ludwig Siemen hervor, die 1991 in der „Kirchengeschichte Bayerns“ (Band 66)  veröffentlicht wurde.

In Polsingen bietet „Diakoneo“ (offizieller Namen seit der Zusammenlegung der Diakoniewerke Neuendettelsau und Schwäbisch  Hall im Jahr 2019)  heute 260 Plätze im Wohnheim, 200 in der Werkstatt, 110 in der Förderstätte und 60 in der Seniorentagesstätte an.

In einer Rezension in der „Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte“ (90. Jahrgang 2021) äußert sich Prof. Rudolf Keller, der Vorsitzende des Vereins für bayerische Kirchengeschichte, zur methodischen Arbeitsweise des Autors.

WERNER FALK

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