Vom Kellner zum Kunstsammler

Johann Georg Pfister war Kurator am Britischen Museum in London und Ehrenbürger von Ansbach

Wie weit kann es ein Arbeiterkind mit Elementarschulbildung und Kellnerlehre in der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts bringen? Der Ansbacher Johann Georg Pfister gibt eine Antwort darauf: Sehr weit, und zwar bis in die hohen Chargen der humanistischen Bildungsbürger, den aristokratischen Familien und weltweit anerkannten Wissenschaftlern. Diese Lebensleistung ist bemerkenswert und natürlich eine krasse Ausnahme. Sie war es damals und sie wäre es auch heute noch, denn bis in die siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts war Arbeiterkinder der Zugang zu höherer Bildung nicht so einfach möglich, geschweige denn, dass ihnen eine internationale Karriere zugänglich gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund ist das Leben von Johann Georg Pfister zu sehen.  Eugen Ringhand, ein gebürtiger Würzburger und Nürnberger Buchhändler mit einem Faible für antike Kunst, der heute in Ansbach lebt, hat es auf 260 Seiten in dem 28. Band der „Mittelfränkischen Studien“ des Historischen Vereins für Mittelfranken skizziert.

Der Sohn eines Schneiders (geboren am 29. April 1799), der aus Heidenheim an der Brenz nach Ansbach gekommen war, wuchs in der Residenzstadt mit seinen Schwestern Johanna Margaretha und Katharina auf.  Seine Mutter starb 37-jährig an „Flussfieber“ („bösartig faulendes Fieber“), der Vater war Pächter der „Goldenen Sonne“ und noch einiger Ansbacher Wirtshäuser. Johann Georg besuchte die „Trivialschule“ (heute: Volksschule) in einer Klasse zusammen mit 74 Gleichaltrigen. Später, als er schon Eingang in die bessere Gesellschaft gefunden hatte, sprach er gern von seiner „45-Kreuzer-Bildung“. Das war nämlich der Betrag, den die Eltern im Vierteljahr an den Lehrer zu zahlen hatten. Im Gasthof „Zum Stern“ begann er mit einer Kellnerlehre und eignete sich autodidaktisch Kenntnisse in der englischen und französischen Sprache an. Wie es das bayerische Gewerbegesetz verlangte, ging er drei Jahre auf die Wanderschaft. Erste Station war Berlin. Der Junge war immer lernbereit und nahm Wissen und Umgangsformen rasch auf.  1820 verließ er Ansbach illegal in Richtung England, denn eigentlich wäre er zum Militärdienst verpflichtet gewesen und hätte deshalb niemals auswandern dürfen. Er war also ein Deserteur.

Von London war er begeistert.  Wie es sich für einen Ansbacher gehört, besuchte er das „Brandenburg House“, das der letzte Markgraf Alexander bewohnt hatte, er  war am Straßenrand Zeuge der Königsfeier von Georg IV. und erwarb die Königsmedaille, die er nach seinem dreijährigen Aufenthalt an der Themse dem Historischen Verein Ansbach schenkte.  Das war zugleich der Beginn einer langjährigen Verbindung und einer langen Reihe von Schenkungen an seine Heimatstadt.  Aber womit finanzierte der junge Mann seinen Lebensunterhalt in der Großstadt? Die gesellschaftlichen Verhältnisse jener Zeit ließen es zu, dass er sich völlig frei und nach eigenem Willen als Dolmetscher und Reiseleiter betätigen konnte. Er benötigte dafür keinen Bildungsnachweis, aber viel Mut.  Den hatte der junge Pfister. Und der Zufall mischte auch mit, als er eine englische Familie kennen lernte, die ihn mit nach Italien (Triest), Frankreich, die Schweiz und Österreich nahm. Es kam – so der Autor Eugen Ringhand – zur entscheidenden Wendung im Leben des 25-Jährigen. Seine sprachliche Genialität, durchaus vorhandene Musikalität, vor allem aber seine Reiselust und Kontaktfreude verhalfen ihm zu einem anderen Leben, als das eigentlich seine bildungsferne Herkunft vorgegeben hatte. Er liebte die Konversation in den Kaffeehäusern, nahm sie sich zum Vorbild und erwarb sich Kenntnisse, die ihn über seinen Stand hinaus hoben. Der Autor spricht von „Fähigkeiten zum Genuss“, die ihn Anteil nehmen ließen an der Geschmacksbildung jener Zeit.  Pfister fand Interesse an antiker und mittelalterlicher Kunst und ließ sich auf seiner ersten Italienreise auch nicht von dem Romantiker  Heinrich Heine negativ beeinflussen, der 1826 über die „Touristen“ schrieb:  „Die Engländer durchziehen dieses Land in ganzen Schwärmen, lagern in allen Wirtshäusern, man kann sich keinen italienischen Zitronenbaum mehr denken, ohne eine Engländerin, die daran riecht“.  Und Lord Byron beschwerte sich über die „englische Pest“ in Rom, „einem Haufen von glotzenden Trotteln, die gleichzeitig billig und großartig leben wollen“.  Kulturtouristen von heute mögen Vergleiche ziehen zu den Verhältnissen im 21. Jahrhundert, wo die Billigflieger Millionen von Sonnenhungrigen im Süden abladen. Für Pfister war es jedenfalls ein tolles Erlebnis, mit der englischen Familie Blessington, ihren drei Kutschen und sechs Dienern einige Jahre zusammen die Welt erleben zu können. Er sprach scherzhafterweise vom „Blessington Circus“.

„London für immer“, war 1829 seine Entscheidung. Der Ansbacher hielt nichts vom elitären Clubleben, er zog interessante private Kontakte („Hasenbraten bei Fremden“) vor. Als Unverheirateter verstieß er eigentlich gegen das bürgerliche Lebensmodell, aber ihm gefiel die Unabhängigkeit und das selbstbestimmte Leben. Der Münzsammler gehörte zu den 121 Gründern der „Numismatic Society“ in der britischen Metropole. Das war seine Eintrittskarte in die bessere Gesellschaft. So fand er ganz unkompliziert und ohne jede Eignungsprüfung  Zugang zur Welt der Gelehrten und den gebildeten Ständen. Als „Esquire“ schrieb der selbst ernannte Etymologe in einer englischen Fachzeitschrift. Somit stand er in bestem Ansehen.

Sein erster fester Arbeitsplatz mit einem gesicherten monatlichen Einkommen wurde 1850 das Britische Museum in London. Er hatte zwar die Einstellungskriterien nicht erfüllen können, doch der Leiter der antiken Abteilung (Edward Hawkins) gab ihm dennoch den Vorzug vor etlichen gescheiten Wissenschaftlern. Obgleich Pfister immer wieder erleben musste, dass seine soziale Herkunft der Anerkennung seiner Leistung im Wege stand („Ich würde lieber einen Klafter Holz spalten, als eine Epistel erstellen“) gelangte er 1857 in den Rang eines Beamten. Nicht immer war ihm London lieb. Er klagte über die „Erbsensuppe“ und meinte den Smog in der Industriestadt. Aber die Bindung zum Britischen Museum war stärker. Als die internationalen Besucher (jährlich kamen 8800) überhand nahmen, wollten die Stifter („Trustes“) das Haus nur noch für das Fachpublikum öffnen. Den Impuls dafür hatte ein 20-jähriger Ire geliefert, der völlig betrunken eine äußerst wertvolle Portlandvase in 200 Trümmer schlug, was natürlich zu einem Aufschrei in der Weltpresse führte. Aber das Museum entschied sich für einen anderen Weg: es beschriftete die Ausstellungsstücke, so dass sie allen verständlich wurden, und verfasste Inventarlisten.  Gottlob zog der „gesetzlose und wütende Mob“ der 1848er Revolution am Museum vorbei. London kam dennoch nicht zur Ruhe, denn die Cholera brachte in einer Woche den Tod von 1200 Menschen. Fünfmal so viele erkrankten.

Johann Georg Pfister wagte sich an seine erste (und einzige) schriftstellerische Arbeit heran, skizzierte auf 136 Seiten seine persönlichen Reiseeindrücke und schrieb das nieder, was er unter Keltenforschung verstand. Damit allerdings konnte er nicht glänzen, die Kritiker meldeten sich mit wenig schmeichelhaften Zensuren („Er hat viele interessante Dinge zusammengetragen, aber mit einigen absurden vermischt“). Der spätere Kurator der Münzabteilung des Britischen Museums kritisierte „eine mäandernde Zurschaustellung von ziemlich sinnloser Gelehrsamkeit“.  Das war natürlich niederschmetternd und ein dicker Hammer für den Hobby-Gelehrten.

Es ist überliefert, dass Pfister ab 1850 wiederholt Geschenke an den Historischen Verein in Ansbach schickte, der sie in seinen Inventarlisten veröffentlichte.  Münzen, Bilder, Bücher, Bronzefiguren und andere „merkwürdige Gegenstände“ mehr verschenkte er „zum Nutzen und zur Belehrung der Jugend“. Alle Originallisten befinden sich heute noch im Stadtarchiv Ansbach. Es sind fadengeheftete und mit Stahlfeder beschriftete Blätter m Format 34 mal 21,5 Zentimeter.  Nach 35 Jahren besuchte er 1852 erstmals seine Familie in Ansbach. In seinem Koffer lagen auch viele Briefe von namhaften Zeitgenossen, die den Ansbacher Provinzlern wohl zeigen sollten, zu welchen bedeutsamen Persönlichkeiten er Zugang hatte. Sie sind übrigens von Autor Eugen Ringhand erstmals ausgewertet worden. Als er 1860 wieder einmal in seiner Heimatstadt auftauchte erwarb er ein Doppelhaus im Postgässchen für seinen Halbbruder Simon, dessen zwei Kinder und Mutter sowie für seine Schwester.

Der Münchner Professor Georg Martin Thomas machte sich beim Ansbacher Stadtrat für eine öffentliche Anerkennung Pfisters stark und auch ein Beitrag in der „Fränkischen Zeitung“ nahm dessen Gedanken auf, indem sie den Ansbachern den Spiegel vorhielt: „Ist denn bei uns alle Regsamkeit verknöchert und schaut man immer nur mit faulem Erstaunen dem zu, was anderswo geschieht?“ Ganz ohne Resonanz blieb die Kritik nicht, denn der Stadtrat sprach Pfister am 24. April 1866 das Ehrenbürgerrecht zu. Weil der Geehrte aber in diesem Jahr nicht nach Ansbach kommen wollte oder konnte – er war „sauer“, weil die Ansbacher es abgelehnt hatten, einen Beitrag von ihm im Jahrbuch des Historischen Vereins zu veröffentlichen – musste ihm das kunstvoll gearbeitete Diplom nachgeschickt werden.   Auch die ihm vom Verein angetragene Ehrenmitgliedschaft lehnte er zunächst wohl aus dem gleichen Grund ab. Gleichwohl führt ihn dieser bis heute als  Ehrenmitglied. Offensichtlich beruhigte er sich wieder, denn 1872 half er mit eigenen Händen mit, seine Sammlung in den Nordflügel des Schlosses zu bringen, wo sie auf 420 Quadratmetern präsentiert werden konnte. Seit es 1984 das Markgrafenmuseum gibt, hat dort die Sammlung ihren Platz.

Als 73-Jähriger kam Pfister 1878 das letzte Mal in die Residenzstadt. 1880 vermachte er seine Londoner Besitztümer an zwei Freunde,  bereits sieben Jahre zuvor hatte er den Ansbacher Besitz seiner Familie testamentarisch zugesprochen. Nach einem Schlaganfall 1881 verstarb er am 2. Juni 1883 in London. Wie der Autor in seinem Nachwort  befindet, war Johann Georg Pfister „ins Zentrum europäischen Wissens gelangt und hatte die Entdeckung der Menschheitsgeschichte von begünstigter Position aus mitverfolgen können“.

WERNER FALK

Eugen Ringhand: „Johann Georg Pfister – Kurator im Britischen Museum und Ehrenbürger in Ansbach“, herausgegeben vom Historischen Verein für Mittelfranken (Staatliche Bibliothek Ansbach, Reitbahn 5), Band 28 der „Mittelfränkischen Studien“, ISBN 9783960491019, 260 Seiten, 35 Euro.

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