Ungewöhnliche Begegnungen: „Chinas Bauch“
Die Chinesen sagen: „Siebenmal Fühlen ist besser als hundertmal Denken.“ Die Menschen im Westen sind „kopfgesteuert“, im Osten entscheidet freimütiger der Bauch. Eine sozial akzeptierte Grundlage des menschlichen Verhaltens bilden Wut, Trauer, Angst, Liebe, Hass und Begehren. Mit großer Empathie für das „Reich der Mitte“ schreibt der Asienkenner ein sehr persönliches Porträt der chinesischen Gesellschaft.
Der Autor ist sich gewiss: Wer China, aber auch Russland oder den Iran verstehen will, der muss erst das Volk und dessen Gefühle kennen. Die Medien dürfen sich nicht allein mit den Unzulänglichkeiten der Regierung befassen, sie sollten mehr Raum den Menschen widmen und dem, was sie bewegt. Das nüchterne Kalkühl des rationalen Verstehens gegenüber dem Osten funktioniert seiner Ansicht nach nicht. Es gibt eben mehr Gesichtspunkte, als die beiden Extreme, die man im Westen kennt und die lauten: „Die überflügeln uns!“ sowie „Die unterdrücken die Demokraten!“.
Die Chinesen haben sich in einer Generation von ihrer ländlichen Herkunft radikal entfremdet. In Europa oder den USA haben die Menschen sich dazu drei Generationen lang Zeit gelassen. Der gesellschaftliche Zustand kennt keinen Blick zurück. Chinesen wollen heute besser sein als die anderen. Allein die Abhängigkeit vom Mobiltelefon hat extreme Formen angenommen. Man glaubt, bis in die Nacht hinein erreichbar sein zu müssen. „Die Sucht nach dem mobilen Alleinunterhalten“, so Autor Marcus Hernig, „ist in China weitweit am größten.“
Die soziale Ungerechtigkeiten sind größer als in den USA und der Wohnraum in den Großstädten oft teurer als in Deutschland. Und das obgleich die Menschen hier viel weniger verdienen als in Westeuropa. Das konfuzianische Prinzip, wonach dem vermeintlich Schwächeren ein gewisser Schutz vor dem Stärkeren zukommt, mag gelten, aber nicht im Straßenverkehr, denn dort gilt: Wer zuerst kommt, fährt zuerst! Eine Vorfahrtsregel, wie sie die deutsche Straßenverkehrsordnung vorschreibt, gibt es nicht. Von einer Privathaftpflichtversicherung wissen die Chinesen nichts. Dieser Umstand treibt oftmals seltsame Blüten. Bei einem Verkehrsunfall kann beispielsweise der Schuldige mit immensen Forderungen der Opferfamilie überzogen werden.
Die Gesellschaft hat mit dem Wandel der Werte schwer zu schaffen. Es machen sich Versagensängste breit. Die Kinder sind oft einem starken Druck von seiten der Eltern und der Schule ausgesetzt. „Die jungen Menschen haben das gemeinsame Leiden, niemals ausruhen zu dürfen“, urteilt der Autor. Die Tugend der Einfachkeit, die man den Chinesen nachsagt, äußert sich in der Formel: Gute Schulleistung = guter Sohn, schlechte Leistung = schlechter Sohn! Viele Studenten haben Furcht vor der Ungewissheit nach ihrem Studium. Sie wissen, dass ihre Eltern alle Entbehrungen auf sich genommen haben, um ihnen das Studium zu ermöglichen. Wenn die jungen Menschen dann keinen Job bekommen, gelten sie als Versager. Schon die konfuzianischen Lehrer sagten: „Wenn Eltern ihre Kinder nur gut versorgen, aber sie nicht lehren, dann versagen sie.“ Ein Lehrer, der nur lehrt und nicht streng ist, der gilt als fauler Kerl.
„Chinas Bauch“ von Marcus Hernig, Edition Körber-Stiftung, 232 Seiten, ISBN 978-3-89684-166-7, 19 Euro.
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