„Fern jeglicher Intelligenz“

Physikatsberichte künden von ländlichen Verhältnissen im 19. Jahrhundert

Angst und bittere Not bei Frau und Kindern, Leichtsinn, Roheit und unlöschlicher Durst beim Mann“. Mit diesem Text ist die Zeichnung 1905 im Buch „Die Frau als Hausärztin“ erschienen.

Die Pandemie hat in den letzten drei Jahren das ganze Land in Beschlag genommen und die Gesundheitsbehörden, die früher ein eher beschauliches Leben führen durften, stark  gefordert und medial in den Vordergrund gerückt.  Wir blenden zurück: Vorgänger der heutigen Staatlichen Gesundheitsämter waren im 19. Jahrhundert die „Gerichtsärzte“ an den 35 Landgerichten (heute: Landkreisverwaltungen) in Mittelfranken. Ihre Physikatsberichte, die zwischen 1858 und 1861  zu erstellen waren, sind Zustandsbeschreibungen nicht nur der medizinischen und hygienischen, sondern der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt. Großen Einfluss auf die Gesundheit der Menschen hatten damals die schlechte Hygiene und die Ernährungsgewohnheiten, auch die Kleidung. Einen Beitrag zur Sozialgeschichte  in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Mittelfranken liefert die Wissenschaftlerin Edeltraud Loos in ihrer Abhandlung „Behufs der Bestimmung des im Bezirk herrschenden Kulturgrads“, die in den Mittelfränkischen Studien (Band 13) des Historischen Vereins für Mittelfranken veröffentlicht ist.

Christian Klingsohr (geb. am 5. Dezember 1806 in Gunzenhausen, wo sein Vater Gottlob Wilhelm als Landrichter tätig war) hat seinen Physikatsbericht 1860 vorgelegt. Nach seinem Studium war er ab 1832 als praktischer und chirurgischer Arzt für die Eisenbahnarbeiter in Gunzenhausen eingesetzt. Der Vater von sechs Kindern hatte somit einen sozialen Status erreicht, den sich damals viele Ärzte wünschen konnten. Denn: die sozialen Verhältnisse waren schlimm, vor allem auf dem Land. Die Menschen vertrauten sich Badern und anderen Wunderheilern an, aber seltener den gebildeten Medizinern. Der Bezirksarzt (heute: Leiter des Gesundheitsamts) hatte ein gesichertes Grundgehalt. Aber das reichte nicht, so dass er auch noch eine ärztliche Praxis führte. In seinem Verfassungs- und Diensteid musste er versprechen, sich so zu benehmen, „wie es gegenüber Gott, der Obrigkeit und Jedermann zu verantworten sei“.  Er musste sich von „unerlaubten Gesellschaften“ fernhalten. Klingsohr gehörte offenbar zu den kritischen Geistern, denn er verlangte als einziger in jener Zeit von der mittelfränkischen Regierung einen Einblick in seine Personalakte.  Es fand sich aber nichts, was auf eine „unliebsame politische Stellung“ hinweisen konnte. Nachbarbezirksämter von Gunzenhausen waren damals Ellingen, Heidenheim, Herrieden, Pappenheim, Wassertrüdingen und Weißenburg.

Der Gerichtsarzt hatte die Aufsicht über das gesamte medizinische Personal in seinem Bezirk (heute: Landkreis), also über Landärzte, Tierärzte, Chirurgen, Bader, Apotheker, Hebammen, Armenhäuser, Schulhäuser (Hygiene), Begräbnisplätze, „behinderte Irre“, Taubstumme. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Leichenschau (damals noch nach dem Tod und vor der Beerdigung). Dass sich die Ärzte untereinander nicht immer grün sind, das soll es früher schon gegeben haben. Konkurrenzdenken und Eifersüchteleien fehlten keinesfalls. Der Landarzt  Dr. Ebersberger (Ornbau) wehrte sich beispielsweise gegen einen weiteren Arzt in seiner Stadt, indem er gegenüber der Regierung auf seine persönlichen Verhältnisse verwies: 76 Jahre alt, aber noch gesund und rüstig; Vater von sieben Kindern, davon drei unmündigen; überschuldetes Anwesen.  Und der Heidenheimer katholische Gerichtsarzt Dr. LTheo Steigerwald wurde in anonymen Briefen in beleidigender Weise angegriffen. Er vermutete dahinter seinen örtlichen (evangelischen) Kollegen Dr. Böhm, für den der Schuss nach hinten losging, denn die Heidenheimer bemitleideten Steigerwald und Böhm „fand keine Patienten mehr“.

Die Amtsärzte jener Zeit beklagten sich oft das fehlende Interesse der Bevölkerung an medizinischer Betreuung. Die Dörfler schenkten beispielsweise einer Hebamme Vertrauen, die ein Neugeborenes mit Kuhmolke ernährte, auch vom „siebenmaligen Schwitzenmüssen“ konnte man die Leute nicht abbringen, ebenso nicht vom Verbot des Lüftens in der Wöchnerinnenwohnung.  Die Apotheker lieferten absonderliche Mittel, etwa Menschen-, Hund-, Hahn-, Dachs- und Bärenschmalz.

Den amtlichen Medizinern war es natürlich auch wichtig, ihre eigene Tätigkeit im Physikatsbericht gegenüber der Regierung ins rechte Licht zu rücken. Sie hatten einen „geschulten Sozialblick“ und beschwerten sich, dass Pfarrer und alte Leute in den Ortschaften nur dürftige Aufzeichnungen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen beisteuerten. Der Heidenheimer Dr. Theo Steigerwald beklagte sich, die Physikatsregistratur sei in einem „äußerst lückenhaften Zustand“, ein anderer Kollege empfand die Physikatsbeschreibung als „ungeheure Zumutung“.  „Oft fand sich kein Apotheker oder Geistlicher als Specialis“, monierte Dr. Karl A. Leo Bergmann aus Roth, der aber den Spalter Apotheker und den dortigen „wissenschaftlichen Revierförster“ aus Ausnahmen lobte, ja von den Spaltern ganz allgemein eingenommen war, „die aufgrund ihrer Hopfengeschäfte mehr Zeitung lesen, spekulieren und politisieren“.  Ganz unterschiedlich war offenbar die Neigung der Amtsärzte, was die Qualität und Quantität der Berichte angeht, wobei die 17 lutherischen Ärzte dienstbeflissener waren als ihre katholischen Kollegen. 15 von ihnen hinterlegten ihre Feststellungen auf 50 Seiten, acht Mediziner beschrieben sogar mehr als 100 Seiten. Von den Katholiken aber bemühte sich nur einer, mehr als 100 Seiten zu texten.

Auch über die „geistige und intellektuelle Konstitution“ der Bevölkerung ließen sich die Amtsärzte aus. Der Gunzenhäuser Klingsohr diagnostizierte „Überanstrengung von Körper und Geist durch außerordentliche Betriebsamkeit“ und empfahl der städtischen Jugend täglich zwei Stunden Bewegung im Freien, der Rother Dr. Karl Bergmann lästerte über die Köhler im östlichen Kreis („ „Affenmäßiges Verhalten fern jeglicher Intelligenz“). Unterschiedlich fiel die Beurteilung des weiblichen Geschlechts aus: „Die Frauen bestechen durch gesunde Gesichtsfarbe und kräftige Brüste“. Der Hersbrucker Arzt bemerkte „trotz allgemeiner Schadhaftigkeit der Zähne“ bei den Frauen seines Amtsbezirks „einen Schatten feiner Schalkhaftigkeit überhauchter Weiblichkeit“. Ein anderer Mediziner konstatierte „beim Weibe geringe Schönheit und wenig Ebenmaß, frühzeitig verblüht und veraltet“.

Der Weißenburger Dr. Friedrich Karl Schrader ließ sich über „elitär abgegrenzte Heimatkreise“ aus und traf die tiefenpsychologische Feststellung, von der manche Zeitgenossen behaupten, sie habe heute noch Gültigkeit:  „Der Weißenburger ist stolz auf das von seinen Eltern ererbte Vermögen und schwelgt in reichsstädtischen Reminiszensen, war viel von Gewerbsgütern begünstigt, und wer nicht so glücklich ist, die ehemalige Reichsstadt als seine Geburtsstadt bezeichnen zu können oder durch eheliche Verbindung den Eingeborenen näher gestellt ist, der ist und bleibt  lange Zeit fremd und wird nicht leicht seines Vertrauens gewürdigt, auch wenn er an Intelligenz ihn weit übertrifft“.

WERNER FALK

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Die Beiträge kommen vom Herausgeber und von Gastautoren. Im Mittelpunkt stehen kommunalpolitische und gesellschaftspolitische Themen. In meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Vereins für Heimatkunde Gunzenhausen ist es mir wichtig, historische Beiträge zu veröffentlichen.

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One Thought on “„Fern jeglicher Intelligenz“

  1. Gerhard Karl on 6. März 2023 at 10:00 said:

    Interessanter Bericht

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