In der Zeitenwende muss sich der Westen neu sortieren
Der Vergleich, den der Philosoph Wolfram Eilenberger bemüht, ist wohl zutreffend: Die Freiheit, die die Menschen in Europa seit Jahrzehnten genießen dürfen, ist demnach ein zartes Pflänzchen und wird es bleiben, das aber selbst in dunkelsten Stunden noch jede Mauer untergraben und jeden Angriff überwunden hat.
In „Liberal“, dem Magazin für die Freiheit (3/2022) bringt er die Vorgänge des Jahres 2022 auf eine Schiene mit denen des Herbsts 1989. Beide Jahreszahlen stehen für eine Zeitenwende, „die das Ende einer lang gehegten Illusion besiegelt“. Das eine Datum steht für den Fall der Berliner Mauer und deren Folgen (Entspannung in Europa) und das andere für den Abschied von einer „liberalen Leitdiktion“ (politischer Wertewandel durch intensiven Handel). Sein wenig schmeichelhafter Befund: Der Kontinent der Aufklärung ist nicht in der Lage, sein freiheitliches Lebensmodell ökonomisch zu erhalten und militärisch zu verteidigen!
Voltaires satirischen Romanheld Candide aus dem 18. Jahrhundert, der wohlbehütet in einem Fürstenschloss aufwächst, stellt er auf eine Stufe mit den „jungen Parade-Europäern“, die das freiheitliche Europa mit der Muttermilch aufgesaugt haben und die von scheinbar unbegrenzten Horizonten (Internet) schwärmen können. Sie seien durch das „geopolitische Erdbeben“ (Ukraine-Krieg) aus ihrem dogmatischen Schlummer erwacht, stünden aber in der Versuchung, eine defensive Logik nachhaltiger Einhegung und isolatorischer Selbstpflege als richtig zu erachten. Aber wie sagte schon Candides philosophischer Lehrer Pangloss, sozusagen ein Freund der Globalisierung: „Alle Begebenheiten in dieser besten aller möglichen Welten stehen in notwendiger Verkettung miteinander“. Und in der Art wie Candide erwiderte („Alles schön und gut, aber wir müssen unseren Garten bestellen“) regieren auch heute die Politiker mit der Kultivierung des Eigenen und der Schollenwahrung.
In einer Welt von fast zehn Millilarden Menschen sieht Wolfram Eilenberger (Autor des Buches „Zeit der Zauberer – das große Jahrzehnt der Philosophie“, Klett-Verlag, 25 Euro) die ökologischen Herausforderungen im 21. Jahrhundert als Aufgaben, „die jedem kontinentalen und zivilisatorischen Autokratieansinnen auf absehbare Zeit die Grundlage entziehen“. Ein „ausgedörrtes Phantasma vergangener Jahrhunderte“ nennt er die Vorstellung, das Gedeihen des eigenen Landes und seiner Werte lasse sich allein mit Waffen und Mauern schützen. Sein Fazit: „Wir müssen uns als Teil eines globalen Lebensnetzes begreifen, das gerade aufgrund seiner inneren Vielfalt von besonderer Widerstandsfähigkeit gekennzeichnet ist.“
Neueste Kommentare