Dr. Ingo Friedrich: Kein aktueller Zustand ist zementiert!
Erste Kommentatoren – etwa in der Neuen Züricher Zeitung – meinen, angesichts der akuten Probleme, bereits das zu erwartende Scheitern des Projektes „Europäische Union“ voraussagen zu können. Nun ist nicht zu leugnen, dass die EU insbesondere wegen der Probleme mit den „aufmüpfigen“ Polen und Ungarn, aber auch wegen des Abtretens der „wandelnden Vermittlerin“ Angela Merkel und des wachsenden Nationalismus/Egoismus in einigen Mitgliedstaaten in ziemlich großen Schwierigkeiten steckt. Aber läutet deswegen schon das Totenglöcklein für die nach dem zweiten Weltkrieg so mühsam aufgebaute neue friedliche europäische Völkerordnung?
Ich glaube, diese Schlussfolgerung ist falsch und zwar aus folgenden Gründen:
1. Auch die größeren EU-Mitgliedstaaten wissen ganz genau, dass in der klein und eng gewordenen Welt von heute nur die großen „Player“ eine Chance haben, die wichtigen globalen Spielregeln zu bestimmen oder wenigsten zu beeinflussen. Die großen Vier sind heute China, USA, Russland und eben Europa. „Normale“ Staaten spielen da in einer ganz anderen Liga und backen wesentlich „kleinere Brötchen“. Wenn ein Frankreich oder ein Italien geschweige denn kleinere Staaten wie ein Tschechien, die Niederlande, Belgien oder die baltischen Staaten heute globalen Einfluss ausüben wollen, geht das nur noch über die Schiene des gemeinsamen Europas. Diesen „Trumpf“ leichtfertig aufzugeben, dürfte beim echten Praxistest letztlich auch den Nationalisten und Egoisten sehr schwer fallen. Insofern bleibt der Brexit die „englische“ Ausnahme von der Regel.
2. Wie in allen Demokratien besitzen die derzeitigen Regierungen in Polen und Ungarn auch keine Ewigkeitsgarantie. Andere politische Kräfte und proeuropäische Parteien stehen in beiden Ländern bereit, um den antieuropäischen Kurs zu beenden. Auch dafür gibt es keine Garantie, aber die Chancen stehen gar nicht so schlecht.
3. Aus der Geschichte wissen wir, dass es mehr oder weniger normal ist, dass in großen Reichen und großen politischen Zusammenschlüssen immer wieder »spalterische« Ideen und Emotionen auftreten, die oftmals auch zu Veränderungen und zu Verkleinerungen führten. Das gilt sogar für das so zentralistische China, das galt für den Vielvölkerstaat Österreich und für die Verkleinerung der Sowjetunion zum heutigen Russland. Gegen derartige Entwicklungen muss der einmal gefundene gemeinsame Weg immer wieder neu begründet werden: Die gemeinsame europäische »Zentralgewalt« – in unserem Fall Brüssel – muss durch sichtbare Erfolge ihre Existenzberechtigung immer wieder neu und überzeugend darstellen. Andererseits ist die Zentrale aber auch auf ein Mindestmaß an Fairness seitens der Mitgliedstaaten angewiesen. Der unbestreitbare Erfolg von 70 Jahren Frieden, Wohlstand, Demokratie, Stabilität und Freiheit ist zu einem maßgeblichen Teil eben auch die Frucht der europäischen Einigung und nicht nur der „genialen“ Politik der Mitgliedstaaten. Und: die Wahrscheinlichkeit ist relativ hoch, dass die bisher so positive Entwicklung durch eventuelle zukünftige Alleingänge wieder allein auftretender Nationalstaaten nicht bewahrt werden kann. Ganz im Gegenteil, der Rückfall in die alte Kleinstaaterei würde letztlich allen schaden. Dann würden die »alten« Großreiche China und Russland Beute machen und ihre Einflusszonen enorm ausdehnen. Die ach so stolzen europäischen Nationalstaaten würden sehr schnell zu Spielbällen dieser ganz Großen werden.
4. Juristisch betrachtet, ist ein Scheitern der EU, also eine Auflösung des heute so definierten Staatenverbundes namens Europäische Union auch mit viel Phantasie gar nicht so einfach vorstellbar. Theoretisch denkbar wäre allenfalls der Austritt einer größeren Anzahl von Mitgliedstaaten, aber selbst dann würden die verbleibenden Staaten juristisch immer noch die Europäische Union bilden. Außerdem gibt es derzeit in keinem Mitgliedsland eine Mehrheitsmeinung für einen Austritt auch in Polen und Ungarn nicht.
Fassen wir zusammen: ein Scheitern der EU ist trotz der akuten Probleme nicht zu erwarten. Also hat der Volksmund wieder einmal recht, wenn er sagt: Totgesagte leben länger. Kritisch hinterfragen lässt sich allerdings ob die bisherigen unbestreitbar großen Erfolge der EU auch zukünftig erwartet werden können, wenn die EU durch innerliches Auszehren und destruktives Verhalten einiger so geschwächt wird, dass ihre Handlungsfähigkeit leidet. Das wäre dann zwar kein Scheitern der EU aber ein schleichender Prozess mit abnehmender Bedeutung Europas. Auch eine derartige Entwicklung widerspricht den Interessen und dem Gemeinwohl der europäischen Bürger. In diesem Sinne dient ein Erfolg des Projektes Europa dem Gemeinwohl der Europäer auch und gerade dann, wenn der Weg dazu stets über das Finden schwieriger Kompromisse führt.
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