Bemerkenswerter Artikel von Gerhard Schwarz in der NZZ
In weltanschaulichen und wirtschaftsphilosophischen Debatten geht es oft um den Gegensatz von Marktwirtschaft und Planwirtschaft. Dieser Gegensatz ist irreführend. Meine Studenten an der Universität Zürich erhoben regelmässig den Einwand, in unserem Wirtschaftssystem, das bei grosszügiger Interpretation als Marktwirtschaft gelten kann, werde doch auch geplant. Sie hatten völlig recht. Natürlich wird in einer Marktwirtschaft permanent und überall geplant. Studenten planen neuerdings schon früh ihre Karriere, private Haushalte planen ihre Ferien und ihre Einnahmen und Ausgaben, Unternehmen planen ihre Produktion, ihren Absatz, die Entwicklung neuer Produkte und die Eroberung vielversprechender Märkte. Aber diese Planungen erfolgen dezentral, durch Millionen von Menschen, Haushalten und Unternehmen. Der Gegensatz zur Marktwirtschaft ist nicht die Planwirtschaft, sondern die Zentralverwaltungswirtschaft. Sie ist den Liberalen ein Greuel. Nicht Planen per se verstösst gegen die Idee der Freiheit, sondern, wenn dieses Planen zentral statt dezentral erfolgt.
Die Sympathie jener Liberalen, denen es nicht einfach um grosse freie Märkte und auch nicht in erster Linie um das Ökonomische geht, sondern um die Freiheit tout court, gehört der Vielfalt, dem Non-Zentralismus, dem Wettbewerb, und zwar in allen Bereichen, nicht nur bei Waren und Dienstleistungen, sondern auch mit Blick auf Lebensentwürfe oder staatliche Gebilde. Möglichst dezentrale staatliche Strukturen sind das Pendant zum Markt. Anders gesagt: Was an Staatlichkeit nötig ist, etwa eine Rahmengesetzgebung, sollte höchstens in Ausnahmefällen global oder kontinental festgelegt werden. Das meiste sollte gemäss dem von den Liberalen aus der katholischen Soziallehre entlehnten Prinzip der Subsidiarität auf den untersten Ebenen nahe bei den Betroffenen geregelt werden. Deshalb sind den Liberalen grosse staatliche Gebilde suspekt. Sie sind für Kooperation und Koordination, aber gegen Vereinheitlichung und Harmonisierung. Vielmehr sind sie für Steuer- und Regulierungswettbewerb – von Gemeinden und Kantonen ebenso wie von Staaten.
Kaum jemand hat dies prägnanter formuliert als der Ökonom und Philosoph Leopold Kohr (1909–1994), der noch vor Ernst Friedrich Schumacher als erster Wegbereiter der Small-is-beautiful-Idee gilt: «Das Mass aller Dinge ist daher der Mensch, nicht die Menschheit, die Gesellschaft, die Nation oder der Staat. Da der Mensch klein ist, müssen auch seine Institutionen … relativ klein bleiben, wenn sie ihn nicht zerquetschen sollen. Aus demselben Grund ist die beste Regierung nicht die stärkste, sondern die schwächste, die gerade ausreicht, dem Bürger sein … gutes Leben zu sichern. Die beste Regierung ist die, die nicht am meisten für den Bürger tut, sondern sich am wenigsten in seine Privatsphäre einmischt und ihn in Ruhe lässt.» Solches – 1983 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnetes – Denken entspricht so gar nicht dem, was sich vor allem viele Manager von Staaten und Regierungen erhoffen, nämlich Stärke und Führung. Es erinnert aber zum Teil an Thomas Jefferson, den Vater der grossartigen amerikanischen Verfassung. Kohrs Betonung des einzelnen Menschen nährt sich nicht aus Eigennutz-Denken, sondern aus der humanistischen Überzeugung, dass sich die Qualitäten des Individuums in der Anonymität der Masse nicht entwickeln, ja dass sie dort sogar in ihr Gegenteil kippen können. Kleine Staaten, kleine politische Gebilde und dezentrale Strukturen sind kein Universalmittel gegen die Vermassung, aber sie sind zumindest ein guter Nährboden für die Beschränkung staatlicher Macht und für das Gedeihen der Freiheit.
Gerhard Schwarz ist unter anderem Präsident der Progress Foundation. Der Beitrag ist der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) entnommen, wo er am 4.1.2020 erschienen ist.
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