Buch von Stefanie Fischer über antisemitische Gewalt in Landgemeinden
368 Seiten hat die umfangreiche Dokumentation – und Gunzenhausen erscheint schon in der ersten Zeile. Ein Bauer aus Heidenheim wird zitiert: „Die Juden brauchen wir, weil ich mein Vieh ohne Juden nicht an den Mann bringen kann.“ So quittierte er die ersten Versuche von 1933, in Gunzenhausen die Juden vom Viehhandel auszuschließen.
Die Autorin Dr. Stefanie Fischer (42) studierte in Berlin, Jerusalem und in den Vereinigten Staaten von Amerika Museumskunde und Geschichte. Ihr Promotionsstudium schloss sie 2012 am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin ab. Als wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin ist sie seit 2002 für verschiedene Museen und Gedenkstätten tätig. Seit 2012 lehrt und forscht Stefanie Fischer am Zentrum Jüdische Studien Berlin- Brandenburg.
„Die Juden waren über Jahrhunderte Mittelsmänner zwischen Stadt und Land“, stellt sie eingangs fest. Gleichsam hat sich die Forschung bisher stark auf das urbanisierte Judentum fokussiert. Die Autorin liefert hingegen eine historische Untersuchung über das Zusammenleben von Juden und Deutschen im ländlichen Raum. Die jüdischen Händler standen bei den fränkischen Bauern anfangs in gutem Ansehen, denn sie kannten sich aus in der Immobilienszene und hatten Kenntnisse von den ländlichen Besitzverhältnissen. Deshalb reichte ihre Einschätzung auch von „gnädige Kreditgeber“ bis „unerbittliche Geldeintreiber“.
Die kleinbäuerliche Struktur Mittelfrankens (60 Prozent der Bauern bewirtschafteten Höfe zwischen 5-10 Hektar) kam den Geschäften entgegen. Wie sie recherchiert hat, gab es zwischen 1919 und 1939 430 Viehhändler, die Hälfte war christliche, 37 Prozent waren Juden. Zu den größeren Familienbetrieben gehörten die Viehhändler Bermann & Oppenheimer in Markt Berolzheim (später Ellingen), zu den kleinen „Schmusern“ Max und Adolf Fleischmann in Altenmuhr. Die jüdischen Familien waren professioneller als die deutschen Händler, denn 80 Prozent von ihnen hatten 1929 schon einen Telefonanschluss, während es bei den nichtjüdischen nur 27 Prozent waren. Sie hatten meist auch einen Knecht, der sich um den Stall kümmerte, in dem das Rindvieh „zwischengelagert“ wurde bevor es einen Abnehmer fand. Deutsche Mädchen lebten bei freier Kost und Logis als Haushälterinnen bei den jüdischen Familien. Die Grenzen zwischen jüdischer und christlicher Welt lösten sich auf, wenn es im Dorf um das Zusammenleben ging. Von der Berolzheimerin Betty Heilmann ist beispielsweise bekannt, dass sie jeden Tag mit dem Rad nach Gunzenhausen fuhr, um sich dort in der Malerei und den Schönen Künsten unterrichten zu lassen. Carola Thormann aus Altenmuhr gehörte in den zwanziger Jahren dem „Club der Harmonie“ an, der sich in den Privathäusern traf. Oder: Paula Stern, die Tochter des Leutershausener Juden Falk Stern. Sie besuchte das Mädchenlyzeum im 50 Kilometer entfernten Fürth und lernte dort ihren späteren Ehemann Louis Kissinger kennen, dessen Sohn Heinz (Henry) es bis zum amerikanischen Außenminister brachte.
Die Autorin hat für ihre Buchveröffentlichung viele lokalgeschichtliche Quellen ausgewertet (sogenannte Sekundärliteratur) und Wiedergutmachungsakten herangezogen, während das Archiv des Viehhändlerverbands im Krieg zerstört worden war und somit nichts an Erkenntnissen liefern konnte. Wie sie dokumentiert, übernahmen die Söhne den väterlichen Viehhandel, aber sie lernten auch andere Berufe und machten sogar Karriere wie der Muhrer Semi Mohr, der zum Direktor des weltbekannten Berliner Kaufhauses Wertheim aufstieg.
Der jüdische Viehhändler war an seinem Herrenhut, dem weißen Hemd und dem Stock als Statussymbol zu erkennen. Der Handschlag galt als Geste des Vertrauens, Geld gab es bar auf die Hand. Etliche waren finanziell gut drauf, andere wieder nicht. Der Markt Berolzheimer Moritz Engel gab gegenüber dem Finanzamt Gunzenhausen 1931 ein Bargeldvermögen von 5000 Reichsmark an. Die fränkischen Bauern waren darob natürlich neidisch und so griff die antisemitische Hetze um sich. Die kleinen Landwirte hatten in der Regel wenig Geld, weshalb es durchaus üblich war, dass sich die Händler auf Ratenzahlungen einließen oder die Viehleihe zur Anwendung kam (das Vieh blieb im Eigentum des Händlers, aber der Bauer durfte die Milch verkaufen). Bauern und Händler vertrauten sich wie das Beispiel aus Oberhochstatt zeigt, wo der Jude Bermann 1927 eine Bürgschaft auf den Hof des ledigen Bauernsohns Andreas Auernhammer übertrug. Das Gegenteil gab es allerdings auch. In diesem Fall war von „Güterschlächtern“ die Rede, der Muhrer Händler Johann Müller schwärzte beispielsweise seinen jüdischen Kollegen bei der Landeswucherabwehrstelle an.
Es entsprach jüdischer Wesensart, dass die Händler in en Wirtshäusern das Umfeld möglicher Geschäftspartner auskundschafteten und dabei von den Nöten mancher Bauern erfuhren. Die jüdischen Händler bedienten sich einer hebräischer Zahlen, um Preisabsprachen gegenüber den deutschen Bauern geheim zu halten. Von „Dummrechnen“ war die Rede, denn die Bauern konnten weder so schnell rechnen wie die Händler noch kannten sie die lachoudische Händlersprache, die heute noch in Schnelldorf bekannt ist.
Die von staatlicher Seite gewünschten Viehverwertungsgenossenschaften brachten zunächst nicht das erhoffte Resultat, nämlich die Ausschaltung der jüdischen Händler. Die Bauern schimpften über „Kriegswirtschaft nach Berliner Muster“ und fürchteten ein staatliches Viehhandelsmonopol. Lieber waren ihnen da schon die „reellen jüdischen Händler“. Mit den Jahren griff die NS-Ideologie auch in den ländlichen Gegenden um sich. Parteimitglieder verteilten beispielsweise 1927 schon das Hetzblatt „Der Stürmer“ auf lokalen Viehmärkten. Der Ansbacher Stadtrat verlangte, die Juden vom Viehhandel auszuschließen, hingegen verbot der Gunzenhäuser Stadtrat das Verteilen von Druckschriften auf dem Markt. Die Parteigenossen nutzten die schlechte wirtschaftliche Lage der Bauern, um Stimmung gegen die jüdischen Händler zu machen. Aus Sugenheim ist überliefert, dass der Bauern seinen Söhnen zurief: „Geht raus mit der Mistgabel und erstecht den Saujuden!.“ Die antisemitischen Übergriffe häuften sich. 1932 schikanierten und prügelten Gunzenhäuser Parteileute einen jüdischen Kaufmann („Schlagt ihn tot, den Juden!“), in Rothenburg stürzte der SA-Führer Stegmann einen jüdischen Händler in die Jauchegrube. Dennoch: für die Landwirte war die Situation nicht schön, denn die Agrarkrise führte sie in den Ruin. In Bayern gab es 1932 62 Prozent mehr Zwangsversteigerungen als im Jahr zuvor (im Reich: 27 Prozent).
1933 wurden Juden ungeniert „Volksschädlinge“ genannt. Soziale Ausgrenzung, wirtschaftlicher Boykott und Gewalt explodierten regelrecht. In Altenmuhr wurden beispielsweise von Nazis handgeschriebene Plakate mit antisemitischen Sprüchen aufgehängt und den Juden verboten, sie abzunehmen. Bis zum reichsweit ersten Judenpogrom in Gunzenhausen, bei dem zwei jüdische Männer auf bisher nicht vollständig aufgeklärte Weise starben („Schlagt drauf, schlagt drauf!“) dauerte es nicht lange. Selbst dem mittelfränkischen Regierungspräsidenten Hofmann war das zuviel, denn er schrieb an das Innenministerium: „In keinem der 53 mittelfränkischen Verwaltungsbezirke ist es zu derartiger Häufung von Übergriffen gekommen wie in Gunzenhausen.“
Der Wettelsheimer Friedrich Franz meldete antijüdische Gewalt: Der arbeitslose Viehknecht Johannes Knoll schlug mit dem dicken Ende des Peitschenstocks auf den Viehhändler Julius Kahn ein. In Markt Berolzheim wurde der Viehhändler Löwensteiner barfüßig durch das Dorf getrieben, vor ihm der trommelnde neunjährige Adolf Schmidt, dahinter eine Meute von einheimischen Männern. Die Blut-und-Boden-Politik der Nationalsozialisten führte zunehmend zur Verdrängung der Juden und zum Ausschluss aus dem Reichsnährstand, in dem alle landwirtschaftlichen Institutionen organisiert waren. Dem Reichsverband des nationalen Viehhandels gehörten fortan die deutschen „Viehverteiler“ an. Die Geschäftsbeziehungen zu den Juden mussten abgebrochen werden. Die SA kontrollierte das Verhalten in Gunzenhausen indem sie vor dem Haus des jüdischen Rechtsanwalts Salomon Walz patroullierte. Wer sich dennoch mit den Juden einließ, der galt als „Judenknecht“ , beispielsweise der Gunzenhäuser Metzgermeister Georg Fischer, der wegen seiner Zusammenarbeit mit den Viehhändlern Nathan und Ignatz Jochsberger diffamiert wurden (1934). In Ellingen verprügelten arische Viehhändler ihren jüdischen Kollegen Max Gutmann im Stall des Bauern Christian Link (1936). Die Nationalsozialisten verlangten „judenfreie Viehmärkte“, doch die eingespielten Handelsbeziehungen standen vielfach dagegen. Der Stallhandel ging vielerorts weiter, aber schon 1935 verlangte die Gunzenhäuser Kreisbauernschaft, den Juden die Handelserlaubnis zu entziehen. Folglich verfügte die Regierung in München, „die Säuberung des Viehhandels von unzuverlässigen Personen“. Es kam noch schlimmer: Bauern denunzierten Bauern. 1937 unterstellte der Frickenfelder Gastwirt Karl Bergmann seinem Kollegen August Krug, ihn aus Geschäftsneid bei der Gendarmerie in Gunzenhausen angezeigt zu haben.
Das Angebot der Nationalsozialisten, Juden vor aufgebrachten Deutschen zu schützen, nannte sich vergiftet „Schutzhaft“. Der Weißenburger Kreisleiter und Bürgermeister Michael Gerstner inszenierte gegenüber dem jüdischen Viehhändlern Bermann und Oppenheimer aus Ellingen seine physische Gewalt, indem er sie 1936 wegen verleumderischer Beleidigung einsperren ließ. Bernhard Bermann musste 108 Tage in Schutzhaft bleiben, weil ihm vorgeworfen wurde, dem Hundsdorfer Landwirt Leonhard Hübner 10000 Reichsmark versprochen zu haben, wenn er den Kreisleiter und den Kreisobmann Maderzholz ermorde.
Immer mehr Juden setzten sich ins Ausland ab und nach 1938 kam es verstärkt zur „Arisierung“ jüdischen Vermögens. Etliche Bauern nutzt die Notlage der Juden aus und zahlten ihre Schulden nicht zurück. Salomon und Hugo Walz in Gunzenhausen hatten 42 solcher Schuldner. So rissen sich überall deutsche Familien das jüdische Eigentum unter den Nagel . Sie zahlten zum Teil nur 80 Prozent des tatsächlichen Wertes von Immobilien, Pelzen oder Möbeln. Zur „Entfesselung des Volkszorns“ kam es schließlich in der Nacht vom 9. auf den 10. November, als sich in Nürnberg der NS-Bürgermeister Willy Liebel brüstete, 26 Juden seien erschlagen worden. Übergriffe gab es überall, auch in Markt Berolzheim, wo der Schmiedemeister Georg Bickel die Synagoge in Brand setzte und Sofie Schönwalter daran hinderte, vor dem Feuer zu flüchten. Als uneinsichtiger„Brutalo“ trat Johann Knoll hervor, der sich selbst bei der Entnazifizierung noch einen „Judenhasser“ nannte. Im Haus von Adolf (!) Bermann, bei dem er früher als Viehtreiber tätig war, schlitzte er mit seinem SA-Dolch den Geldsack auf und verstreute die Scheine. Die Polizei blieb passiv und bot keinerlei Schutz vor dem plündernden Mob. Emanuel und Berta Engel verschanzten sich vor dem SA-Angreifer Karl Loy im Taubenschlag, der Jude Stern und seine Frau stürzten sich aus dem Fenster. Hilfe für sie kam erst am nächsten Tag.
Stefanie Fischer: „Ökonomisches Vertrauen und antisemitische Gewalt – Jüdische Viehhändller in Mittelfranken 1919-1939“; 368 Seiten; ISBN 978-3-8553-1239-5; Wallstein-Verlag, 34.90 Euro.
Ich bin Jahrgang 1952, im Altkreis Sulzbach-Rosenberg (Oberpfalz) aufgewachsen, in einem kleinen Dorf von dreihundert Einwohnern. Man hat mir da einiges erzählt, wie die Juden im Dritten Reich behandelt wurden. Nürnberg war ja nahe. Und die große Mehrheit hat – leider – geschwiegen, bis auf meine Großmutter, auf die ich heute noch sehr stolz bin. Die hat Glück gehabt, immer wieder hat man sie dazu aufgefordert, doch „endlich das Maul zu halten, sonst würde sie noch abgeholt“. Sie hat immer die Wahrheit gesagt, einmal hat sie sogar in der Öffentlichkeit Hitler als einen Lumpen bezeichnet. Ausgerechnet die Frau des Ortsgruppenleiters hat ihren Mann gedrängt, sie zu schützen, was er dann auch getan hat. Solch mutige Leute waren wohl selten damals. 1993 habe ich meine Frau aus Thüringen geheiratet. Wegen ihrer kirchlichen Aktivitäten wurde sie drüben schließlich sogar arbeitslos, obwohl es das in der „DDR“ offiziell nicht gab. In Diktaturen ist alles möglich, da kann ich froh sein, in einem freiheitlichen Staat aufgewachsen zu sein. Als wir schließlich ihre „Stasi-Akte anforderten, standen nur „Kinkerlitzchen“ drin, wo sie sich mit welchen Lauten aus dem Westen getroffen hat, welche kirchlichen Glaubens-Aktivitäten sie betrieben hat, nichts, was man eigentlich als „staatsfeindlich“ bezeichnen konnte. Namen von „Informanten“ wurden darin nicht genannt, da waren wir dann ganz froh darüber. Die Leute wussten aber auch so genau, wer da involviert war. Sie hat diesen Leuten bewusst vergeben, das macht ja einen Christen aus. Das Schlimme an solchen Sachen ist, dass, wie nach dem Dritten Reich, die meisten sagten, sie seien ja immer dagegen gewesen, gezwungen worden, konnten ja nicht anders und dergleichen. Und immer heißt es, das waren „die Nazis“, „die Kommunisten“, „die Stasi“, die das und das getan haben. Nein, das waren keine „abgehobenen“ Gruppen, da haben die ganz normalen Leute mitgemischt. „Normale“ Polizisten haben im Osten mitgemordet, „normale“ Volkspolizisten haben Leute brutal behandelt. Es ist immer das Gleiche, und ich frage mich, ob das in absehbarer Zukunft nicht wieder möglich ist. Der Mensch hat sich noch nicht geändert und wird sich auch nicht ändern. Die Bibel nennt das den „Sündenfall“. Dieses wertvolle Buch nennt auch den Ausweg aus diesem Dilemma, vor allem im Neuen Testament. Bitte nachlesen!